Axel Kelm

Blog

Eigene Gedankensplitter

Nebenwirkungen

„Neuroleptika, auch Antipsychotika oder Nervendämpfungsamittel, wirken psychotischen Symptomen wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen entgegen. Gleichzeitig haben sie oft eine beruhigende, dämpfende Wirkung.

Neuroleptika werden vor allem bei schizophrenen Erkrankungen eingesetzt, und zwar sowohl zur Linderung der akuten Symptome als auch als Langzeitbehandlung, um Rückfälle zu verhindern.

Wegen der hemmenden Wirkung auf den Botenstoff Dopamin treten bei typischen Neuroleptika häufig so genannte extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen auf. Dies sind Bewegungsstörungen, die vom Zentralnervensystem ausgehen. Sie treten umso häufiger auf, je stärker die antipsychotische Wirkung des Medikaments ist. Zu den extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen zählen Frühdyskinesien, Spätdyskinesien, die Akathesie und Symptome, die der Parkinsonkrankheit ähneln – der so genannte Parkinsonoid.

Frühdyskinesien treten schon relativ kurz nach Behandlungsbeginn auf und äußern sich in unwillkürlichen Bewegungen und krampfhaftem Anspannen der Muskeln, zum Beispiel in Zungen-, Schlund- und Blickkrämpfen. Spätdyskinesien zeigen sich erst nach einer längeren Behandlung mit Neuroleptika, sind dann jedoch meist nicht mehr rückgängig zu machen.

Oft kommt es zu Bewegungsstörungen im Gesicht wie Zucken, Schmatzen oder Kaubewegungen und unwillkürlichen Bewegungen der Arme und Beine. Als Akathesie bezeichnet man eine quälende Bewegungsunruhe, bei der die Betroffenen unfähig sind, still zu sitzen. Zu den Symptomen, die der Parkinson-Krankheit ähneln, zählen Muskelstarre, Zittern und verlangsamte Bewegungen – bis hin zur Unfähigkeit, sich überhaupt zu bewegen.

Weitere häufige Nebenwirkungen typischer Neuroleptika sind Müdigkeit, verlangsamte Reaktionsfähigkeit, Gewichtszunahme und sexuelle Funktionsstörungen.“

Herr Würdenstieg litt an einer chronischen schizophrenen Psychose, die seine Lebensführung so beeinträchtigte, dass es zu wiederholten langen Klinikaufenthalten kam. Besonders imponierten seine Beschreibungen von Stimmen, die ihn nahezu unaufhörlich beschäftigten. Diese Stimmen waren zum einen kommentierend („was soll das“, „was machst du da“), auffordernd („hör auf , mach jetzt, …“) und/oder beleidigend („faule Sau, Versager, …“). Manchmal aber auch zustimmend und lobend, sowie seine wahnhafte Verkennung der Welt bestätigend. In dieser, seiner Welt, wurde er von vielen Frauen – erkennbar an ihrem Namen „L`Oreal“ – begehrt und respektiert. Im Weiteren war in der Lage aus alten Batterien, Pappe und Farbe „Supersender“ zu konstruieren, mit denen er umfangreiche Signale senden und empfangen/hören konnte, universal!

Nach mehreren Versuchen einer besseren „Einstellung „ auf eine neuroleptische Medikation wurde nun ein neues Präparat ausprobiert, da bei Herr Ehrenberg starke Nebenwirkungen in Form von Dyskenesien auftraten. Unter dieser Medikation waren die Nebenwirkungen stark rückläufig, resp. Verschwunden und nicht mehr zu beobachten. Umso mehr verwunderte die ständige Klage über die Nebenwirkungen. Diese Klage wurde häufig auch kritisch betrachtet, da ein üblich verabreichtes Medikament gegen die Nebenwirkungen, selbst stimulierende Wirkung haben konnte.

In der nächsten Visite klagte der Patient erneut anhaltend über die für Ihn nicht tolerablen Nebenwirkungen, konnte aber bei Abfrage der üblichen Erscheinungsformen keine nachvollziehbaren Angaben machen. Bei zunehmender Ratlosigkeit der Beteiligten wurde nun nochmal erfragt, welche Nebenwirkungen denn auftraten und so belastend, ja unaushaltbar, seien.

„Die Stimmen, die Stimmen sind einfach weg“!

Buchhaltung

„Die nächste Phase der Supervision besteht darin, „um die betreffende Person herumzugehen“. Dies geschieht mit Hilfe von Phantasiearbeit, die selbstverständlich auf dem Fundament der bisherigen Informationssammlung begründet ist und dazu beiträgt, die betreffende Person mit ihrer individuellen Persönlichkeit in den Blick zu nehmen. Auf der anderen Seite wird diese auf dem emotionalen Zugang gründende Seite der Fallarbeit notwendig ergänzt durch die Berücksichtigung der vorhandenen psychischen Störungen mit ihren Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten der zu besprechenden Person.“

Zuerst schien das Thema schwer zu fassen, eine Klientin, dement, hochbetagt, ohne besonders herausforderndes Verhalten, der aber „nichts recht zumachen war“ und dies in einem Ausmaß, dass die Pflegenden quälte, ihnen „das Leben zu Hölle machte“. Erst nach vielen Schilderungen und der spürbaren Verzweiflung der Pflegenden wurde die Entwertung durch die Bewohnerin deutlicher. Der immer wieder zu Tage tretende Anspruch der Pflegenden durch ihr eigenes Tun zu einem Wohltun für die zu Pflegenden beizutragen blieb hier massiv unerfüllt. Was wiederum zu aggressiven Impulsen bei den Pflegekolleginnen führte. Einzeln waren die Kränkungen und Entwertungen wenig spektakulär, auch im Hinblick auf sonstigen Besprechungsanlässe. In der Summe und Totalität jedoch stellten sie eine große Belastung dar und auch eine gewisse Sprach – und Ratlosigkeit in der Supervision trat ein. Im Versuch diesem entgegenzuwirken widmeten wir uns erneut der Biographie der Klientin, welche durch sie selbst und andere relativ gut bekannt war. Wie so viele war die Bewohnerin – 1936 in Königsberg geboren – durch die Kriegswirren auf der Flucht in ein sichereres Gebiet. So war sie in diese Stadt gekommen. Durch Ihre Erzählungen und Berichte der Tochter waren aber die Umstände klarer als bei vielen anderen Bewohnern. Sie verlor auf der Flucht die bekannte Umgebung, Heimat und den Ort ihrer Kindheit. Sie verlor aber im weiteren buchstäblich alles, so überlebte nur Sie allein die Flucht, ihre Mutter, Großmutter, ihre fünf Geschwister, die Pferde wurden getötet oder verschwanden ohne jemals wieder zu erscheinen. Viel später erfuhr sie vom Soldatentod des Vaters. Sie kam also allein hier an. Es entstand eine lebhafte Diskussion, wie denn ein so junger Mensch (9 Jahre) so was überstehen, überleben könne. Was könnte hilfreich sein? Was macht ein solcher Mensch? Frau C. kam bei entfernten Verwandten unter, die die Flucht ebenfalls überlebt hatten, ging zur Schule, machte eine Ausbildung, fand eine Arbeitsstelle und im Weiteren einen Ehemann und gründete eine Familie aus der zwei Kinder hervorgingen. Was macht Mensch? Auf einmal kam das Thema auf den ergriffenen Beruf – Buchhalterin – und es entstand ein Bild von einer Frau, die unerklärlich, alles verlor, alles! Die eine Ausbildung beginnt in einem Fach, in dem alles seine Ordnung hat, nichts unerklärlich passiert oder verlorengeht, ein Ort, in dem alles immer und immer wieder reproduzierbar ist und am Ende alles aufgeht.

Ob Frau C. diesen Beruf gezielt auswählte, ob das unbewusst war, wissen wir nicht. Aber es war ein Zugang, dass für diese Frau zeitlebens solch eine Verhalten eine Ressource für Ihre Resilienz dem Schicksal gegenüber darstellen konnte, die jetzt im Alter unter den Einschränkungen der Demenz Gefahr lief verloren zu gehen. Deshalb das Starre, Rigide, so und nicht anders, das hier ein Überlebenskampf von Frau C. stattfand, von dem sie nicht lassen konnte. So war nun das Verhalten ganz anders auszuhalten, ja vieleicht sogar zu nutzen.

Die Pflege und Versorgung von Frau C. bleib weiter schwierig, die Erschütterungen durch die Massivität der Ablehnung und Entwertungen, waren aber wesentlich zurückgegangen unter der Sicht des „Kampfes“ den Frau C. ihr Leben lang bestritten hatte.

„Die Wahrheit, die wir suchen,

schließt eine geistige Annäherung an das Geschehen mit ein,

ein Verständnis für Opfer und Täter, mit dem sich leben lässt.“

Ruth Klüger

weiter leben. Eine Jugend. Wallstein, Göttingen 1992; dtv, München 1994.

„Von angenehmem Äußeren“

In den 80/90er Jahren wurden noch Papierpatientenakten bei aktuellen Aufnahmen/Behandlungen genutzt. Wenn die Patienten bereits vor langer Zeit behandelt worden waren fanden sich die Berichte darüber also in den aktuellen Akten. Eine damalig vorherrschende Haltung war, die Akte/Vorgeschichte/Diagnose interessiert mich nicht, „ich möchte mich unvoreingenommen“ mit der Person befassen. Dies teilte und teile ich nicht, da mir jede Information, wen es gelingt sie richtig zu gewichten, wertvoll erscheint. Also interessierten mich die Vorgeschichten und zu meinem Erstaunen fanden sich viel zu häufig in den regulären Krankenakten Befunde und Berichte über den Umgang mit „andersartigen“, „kranken Menschen“ während der Nazizeit. Auf einmal gab es eine reale Person, welche mir gegenüber saß, die auf das schändlichste behandelt worden war und bis heute unter den Taten litt. So wie bei einer schizophrenen Frau, Patientin der damaligen Zeit, unter deren bizarren Größenideen und Verkennungen, lauter und geifernder Aggressivität immer eine große Trauer durchschimmerte.

Am häufigsten fanden sich Zwangssterilisation. Es war erschütternd zu lesen mit welcher Kälte junge Frauen, nach kürzester Zeit, mit „Diagnosen“ – zu denen auch „sexuelle Haltlosigkeit“ und „zu erwartende Promiskuität“ zählten – bedacht wurden, die dann Zwangssterilisationen zur Folge hatten. Die sprachlichen Formulierungen, zu denen auch die Kapitelüberschrift gehört, zeichneten sich durch eine kristalline Menschenverachtung aus.

Und auf einmal war das Grauen von Auschwitz ganz nah.

„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen.“

Theodor W. Adorno

Himbeere mit Gurke

Im früheren Maßregelvollzug – das ist vermutlich bis heute so – waren die Genüsse, die freien Menschen gegenwärtig sind, nicht so ohne weiteres zugänglich Hierzu zählen insbesondere Alkohol und weitere Drogen. Auch die Möglichkeiten Stimmungen, Spannungen und Gefühle zu modulieren durch Bewegung, Sport, Unterhaltung und Zerstreuung sind eingeschränkt, manchmal auch in den Personen selbst. So bilden sich Ideen der Kompensation. Beeindruckend sind die Nutzung von Kaffee und Tabak. So ist bei kaffeeartigen Getränken, innerhalb der Psychiatrie und des Maßregelvollzugs, sehr umsichtig vorzugehen, da nicht selten das Kaffeepulver die Hälfte der Kanne ausmacht. Hinzu kommt großzügig Zucker und dann wird mit kochendem Wasser aufgefüllt. Ein Kaffee, bei dem der „Löffel steht“, und der bei nichtahnendem Genuss zu überraschendem, heftigem Herzklopfen führt. Dies gerne kombiniert mit ununterbrochenem Rauchen von Zitat: „Tabaksperversitäten“, in der Regel Mischungen von Resten anderer Rauchwaren. So wird dann auch die „Luft zum Schneiden“ dick.

Im Rahmen eines Projektes der Hochschule im Maßregelvollzug beeindruckte  dann eine Kombination des eben beschriebenen mit dazu passender Speise. So wurde von einem Patienten jede Woche, soweit das Geld reichte, am Freitag eine Himbeertorte, immer dieselbe, im ganzen, bestellt. Diese wurde durch ein großes Glas Gewürzgurken, immer dasselbe, ergänzt. So wurde die Torte, im ganzen, dann mit einem Suppenlöffel zügig verzehrt, sowie anschließend das Glas Gewürzgurken, einschließlich der Gurken, mit sichtlichem Genuss direkt ausgetrunken. Bitten zum Teilen oder Abgeben von Teilen dieser beider Komponenten wurden, im Gegensatz zur sonstigen Großzügigkeit, nicht beachtet.

Muttertag

Eine schizophrene Psychose kann sich in Verkennungen, wahnhaftem Erleben und Halluzinationen manifestieren. Hierbei kann es zu unterschiedlichen Ausprägungen kommen, die zwischen Größenwahn und größtem Angsterleben oszillieren.

Jochen G. kam aus einer Kleinstadt an der deutschen Nordseeküste. Sein Vater war Zimmermann und führte einen kleinen Handwerksbetrieb. Die Mutter war – wie man damals sagte – Hausfrau.

Schon während des Abiturs und noch mehr danach unterschieden sich Jochens Ideen und die Sicht auf die Welt deutlich von denen der Menschen, die ihn umgaben. Seine Versuche, dies mit Alkohol und Cannabis zu „heilen“, verschlimmerten die Situation, so dass Jürgen sich zum einem häufig furchtbar ängstigte, zum andern aber auch voller fester Zuversicht auf die eigene unendliche Macht – Retter und Herrscher der Welt und des gesamten Universums – tun und lassen konnte was ihm beliebte.

Dies ging nicht lange gut und so wurde eine Einweisung und Behandlung in der psychiatrische Klinik veranlasst. Jochen G. kam zunächst auf eine Aufnahmestation und da sich seine Symptomatik im Verlauf der Zeit eher als chronisch darstellte im Weiteren auf eine Station für „längerfristige Behandlung“. Diese war in ein einem Jugendstilgebäude im Park des Krankenhauses untergebracht mit einem prächtigen Treppenhaus mit üppig verzierten Holzgeländern. Aufgrund der Stockwerkhöhe der einzelnen Etagen führte diese Treppe in imposante Höhen.

Die Behandlung von Jochen G. verlief schleppend. In dem Delta zwischen Allmacht und Ohnmacht entschied er sich für Passivität, insbesondere bzgl. der Therapieangebote. Stattdessen, wenn immer möglich, für jedweden Drogenkonsum. Die zwischenzeitlich  verordneten „Belastungsurlaube“ zu Hause führten zu großem Frust bei den Eltern und bei Jochen und die vermutlich schon lange bestehende Kluft, mit gegenseitiger Abneigung und Hilflosigkeit, wuchs. Jochen verweigerte sich zunehmend allem, auch den Besuchen zu Hause. Im Hinblick auf die anstehende Wiederkehr des „Muttertags“, der bei der Familie einen hohen Stellenwert besaß, lehnte Jochen kategorisch jeden Kontakt mit zu Hause ab. Die Mutter entschied sich darauf hin selbst zu einem Besuch in die Klinik zu fahren. Als sie sich auf der Station anmeldete und der Besuch Jürgen angekündigt wurde ließ er die Mutter im Treppenhaus warten. Nach längerer Zeit schaute er vom höchsten Absatz hinunter und rief: „Jetzt komme ich, das Warten hat ein Ende, Mutter!“ Und sprang!

Unmittelbar neben der Mutter schlug Jochen auf dem Steinboden auf und verletzte sich so schwer, dass eine Reanimation und Intensivbehandlung notwendig wurde. Nach langer körperlicher Rehabilitation konnte die psychiatrische Behandlung auf der Station fortgesetzt werden. Im Treppenhaus hatte man inzwischen ein Netz zur Vermeidung weiterer solcher Ereignisse angebracht. Der psychiatrische Verlauf blieb zäh, man konnte manchmal den Eindruck haben, dieser Ort, diese Station, sei noch der am besten geeignetste für Jochen, zumindest jener, der noch für ihn am besten auszuhalten war. Zu den Eltern und weiteren Personen hatte er jeden Kontakt abgebrochen. Die immer wiederkehrenden Entlass Vorbereitungen vereitelte er mit florierender Symptomatik, die aber auch das schillernde des Anfangs verlor.

In einem angrenzenden Stadtteil der Klinik steht ein architektonisch hoch prämiertes Wohnhochhaus eines skandinavischen Architekten, das höchste in den umliegenden Stadtteilen, das besonders durch seine aufragende Betonkonstruktion imponiert. Eines Tages gelang es Jochen sich Zugang zur höchsten Etage zu verschaffen und die 65 Meter hinunterzuspringen. Trotz schwerster und nicht mehr behandelbaren Verletzungen wurden umfangreiche Reanimationsbemühungen und mehrere Notoperationen, zum Teil noch vor Ort, durchgeführt. Am Tag nach dem Sturz hatte sich Jochen dann endlich „von der Last des Lebens befreit“.

Das Netz im Treppenhaus hängt nach wie vor!

Grenzen

„Durch Begrenzung wird etwas wertvoll“

„Das altgriechische Wort mania steht für Wut, Wahnsinn oder Raserei. Daraus wurde der Begriff für die als Manie bezeichnete psychische Bewusstseinsstörung abgeleitet. Der Betroffene befindet sich in einem scheinbar nicht enden wollenden Stimmungshoch und zeichnet sich oft durch ein maßloses Selbstbewusstsein bzw. grenzenlose Selbstüberschätzung aus. In einigen Fällen tritt statt des Stimmungshochs Gereiztheit auf.

Als Folge der Erkrankung geraten die Betroffenen oftmals mit ihrer Umwelt in Konflikte, da sie diesen nicht mehr bewusst aus dem Wege gehen können. Die Manie tritt häufig in Schüben auf und verläuft bipolar, das heißt mit entgegengesetzten Stimmungen.“

Frau Steiner war eine imposante junge Frau, groß von der Körpergröße und groß in dem, welchen Raum sie einnahm wenn man ihr begegnete. Und laut. Frau Steiner war eine Musikstudentin, sehr begabt, aber im Rahmen ihrer Manie häufig aus dem Takt. Oder noch besser: drüber. So fiel ihr beim Spielen von Klarinette oder weiteren Blasinstrumente es sehr schwer die Luftmenge so zu begrenzen, dass sie die Töne nicht überblies und somit eine Oktave höher wurde. Überhaupt waren Grenzen beim Essen, beim Reden, bei der Sexualität, … eine ständige Herausforderung, die sie sehr häufig verlor.

Die Behandlung nahm lange Zeit in Anspruch und so sehr Frau Steiner einen auch einen sich für sie einnehmen ließ, so anstrengend war der Kontakt. Nun stand ein weiteres Familiengespräch mit der Mutter an, die sehr eng – um nicht zu sagen symbiotisch – mit der Tochter verbunden war. Im Vorfeld des Gesprächs war Frau Steiner noch lauter und exaltierter als sonst und hatte große Mühe kleinste Regelungen einzuhalten.

Der gemeinsame Termin fand an einem heißen Sommertag statt und die Mutter erschien, schmerhaft humpelnd und trug unter den sommerlichen Sandalen dicke, große Verbände. Wie so häufig bei diesen Gesprächen klagte die Mutter über die Anstrengungen durch die Patientin, insbesondere ihre ständigen Grenzverletzungen. Was ebenso häufig zu Ausbrüchen von Frau Steiner führte, die immer wieder – laut sich beschwerend – schreiend den Raum verließ.

Um die Stille und Pause während der Abwesenheit zu füllen kam das Gespräch auf die verbundenen Füße. Die Mutter berichtet freudig, dass sie vor kurzem bei tollem Wetter eine große Bergwanderung absolviert hatte, mehrere Tage, eine Höhenwanderung. Leider war sie mit neuen Schuhen losgelaufen und bereits nach den ersten Stunden waren die Füße wund. In den nächsten Tagen, an denen sie weiter ging, wurden die Füße so wund und entzündeten sich, dass „das Blut herauslief“. „Ja, das tat schon weh, auch ein wenig Fieber war vorhanden, aber warum die Höhenwanderung abbrechen“. Sie musste sich danach in ärztliche Behandlung begeben und es würde eine Weile dauern, „bis das verheilt sei“.

Nun wolle sie aber wieder mit und über ihre Tochter sprechen und deren Mangel an Erkenntnis und Anerkennung von Grenzen.

Bienenstich

„Gutartiger Parotistumor oder Parotismasse, wenn sie unbehandelt bleiben, können im Laufe der Zeit bösartig werden. Parotistumoren können Gesichtsdeformationen und ein anästhetisches Erscheinungsbild verursachen. Es kann an Größe zunehmen und die umgebenden Strukturen und Gewebe beeinträchtigen. Im Laufe der Zeit kann ein Parotistumor oder eine Parotismasse die darunter liegenden Nerven, Lymphknoten, Blutgefäße, Muskeln, Haut und sogar Knochen betreffen, was zu irreversiblen Schäden führt. In fortgeschrittenen Fällen kann die Malignität in andere Bereiche des Körpers metastasieren.“

Frau G. war immer sehr stolz darauf, dass sie eine Lokführerin war. In jungen Jahre fuhr sie im Tagebau die Zugmaschine mit den vielen Loren voll Braunkohle, als Frau, was ihr damals große Anerkennung, eine gewisse Stellung und ein gutes Einkommen sicherte.

Nun war das lange her und im weiteren Verlauf ihres Lebens war sie auch anderen Zeiten ausgesetzt, Not, Vertreibung, Flucht und nun da sie einsam und den Bezug zur Zeit verloren hatte, plagte sie ein „Bienenstich“. Eigentlich war gar keine Zeit für Bienen, aber da war diese Schwellung am Hals, die auch schon eine beachtliche Größe erreicht hatte.

Aber auch die eigenartige Schwellung verschwand immer wieder aus der Erinnerung, der „Bienenstich“ indes wurde immer größer.

Frau G. wurde im Krankenhaus aufgenommen, als bei der Vorstellung zu einer ärztlichen Behandlung, auffiel, das sie eine große Schwellung am Hals hatte, welche die Beweglichkeit des Kopfes einschränkte, aber auch, da sie völlig desorientiert war. Wo, wann, wer, …alles Frage auf die sie keine Antwort geben konnte. Kurze Sätze auf russisch, schlesisch, einer Art von Deutsch, konnte sie sagen, direkte Antworten nicht.

Es wurde ein großer Parotis-Tumor, der wohl schon lange gewachsen war, diagnostiziert. Im Grunde inoperabel, vielleicht zu bestrahlen. Kurativ, auch aufgrund des hohen Alters, mit wenig bis keinen Erfolgsaussichten. Palliativ eventuell notwendig, da bei weiterem Wachstum die Luft- und Speiseröhre eingeengt werden würden und dadurch die Nahrungs- und Sauerstoffzufuhr nicht sichergestellt waren.

Für die Einwilligung in die weiteren Behandlungen wurde die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung notwendig und so konnte mit einer Strahlentherapie begonnen werden. Frau G. beteiligte sich an der Entscheidung wenig, machte aber die notwendigen Prozeduren, insbesondere die Bestrahlungen im Keller der Nuklearmedizin, mit großer Gelassenheit mit. Unter der Bestrahlung wurde der Tumor kleiner, begann aber leider auch zu exulcerieren, heißt wurde zu einer großen nässenden Wunde.

Diese bald suppentellergroße Wunde war nun nur noch sehr schwer zu behandeln, versorgen und zu verbinden. Außerdem stank sie zunehmend so penetrant, das bereits beim Passieren der Stationstür der Geruch zu vernehmen war.

Frau G. ertrug das alles wie auch die bisherigen Umstände ihres Lebens mit Gleichmut. Nur die zunehmenden starken Schmerzen lösten Unruhe und Stöhnen aus. Sie schien sich auch immer mal zu fragen, so verstanden wir ihre Äußerungen, wieso denn ein Bienenstich solche Malaisen machen konnte. Es bedurfte nun solcher hohen Dosen von Schmerzmitteln und weiterer Medikamente, sodass das Bewusstsein immer mehr schwand. Manchmal im Wettlauf mit der sich ebenso rasch verschlechternden kognitiven und körperlicher Verfassung.

Die Gesamtsituation führte zu einer extremen Belastung des Behandlungsteams und führte zu Überforderungen und auch Abbrüchen der Tätigkeit vor Ort.

Als nun endlich, das sicher weiter verschlimmernde Siechtum ein gnädiges Ende fand, stellte sich – untypisch bei einem Versterben eines Patienten – große Erleichterung ein.

Es ist zu hoffen, dass auch die Lokführerin ihren Heimatbahnhof erreicht hatte.